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Die «vergessenen Kinder» sichtbar machen – Kinder psychisch kranker Eltern

Edition No. 115
Jan. 2017
Prevention in healthcare

Psychische Gesundheit. Kinder bedeuten Zukunft. Damit sie sich auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben bestmöglich entfalten können, benötigen sie stabile Beziehungen. Psychisch erkrankten Elternteilen ist es aber oft nicht möglich, ihren Kindern genau das zu geben. Lange Zeit galten Kinder psychisch erkrankter Eltern deshalb als «vergessene Kinder», und ein Blick auf sie blieb häufig auch von Seiten der Versorgung aus. Wikip, das Winterthurer Präventions- und Versorgungsprojekt für Kinder psychisch kranker Eltern, arbeitet seit 2010 daran, Lösungen für die bedarfsgerechte Unterstützung und eine angemessene Versorgung der betroffenen Familien zu etablieren. Nach dem Vorbild integrierter Versorgungsmodelle bindet das Projekt heute alle relevanten regionalen Versorgungssysteme in die Arbeit ein.

Psychische Gesundheit umfasst persönliches Wohlbefinden, Zufriedenheit, Selbstbewusstsein, Beziehungsfähigkeit, Alltagsbewältigung und Arbeitsfähigkeit. Sie ist kein Zustand, sondern ein dynamischer Prozess, der eine ständige aktive Anpassung des Individuums an die laufenden objektiven und subjektiven Veränderungen erfordert. Dagegen beeinträchtigen psychische Krankheiten das alltägliche Leben und wirken sich auf emotionaler, kognitiver, interpersonaler, körperlicher Ebene aus wie auch auf das Verhalten. Sie haben nicht selten Einfluss auf alle Lebensbereiche und beeinträchtigen Lebensqualität, Alltag und Arbeitsfähigkeit. Ausserdem belasten sie auch die Angehörigen stark und können, wenn die psychisch Erkrankten auch Eltern sind, die Bewältigung ihrer familiären Aufgaben behindern und die Eltern-Kind-Beziehung erheblich stören. Psychische Erkrankungen werden aber heute noch oft nicht erkannt, heruntergespielt oder stigmatisiert und auch in ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung unterschätzt.

Psychische Erkrankungen sind häufig

Die Mehrheit der Bevölkerung (60 %) in der Schweiz fühlt sich laut der Schweizerischen Gesundheitsbefragung SGB aus dem Jahr 2012 voller Energie und Vitalität. Umgekehrt fühlen sich knapp 5 % der Schweizer Bevölkerung stark und rund 13 % mittelschwer psychisch belastet. Dies bedeutet, dass bei 18 von 100 Personen das Vorliegen einer psychischen Störung wahrscheinlich ist, wie es der vierte Monitoringbericht zur psychischen Gesundheit in der Schweiz des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums festhält.

Vergessene Kinder

Sind Menschen mit psychischen Erkrankungen auch Eltern, dann sind sie oft zu sehr mit sich selbst beschäftigt und nehmen die Auswirkungen auf ihre Kinder und deren Nöte gar nicht genügend wahr. Häufig fehlt ihnen ganz einfach die Kraft und die Kinder werden «vergessen». Ist mit der Erkrankung des Elternteils noch ein Klinikaufenthalt verbunden und eine Trennung von Eltern und Kind, kann dies zu Traumatisierungen der Kinder führen und sie in ihrem Bindungsverhalten und ihrem Urvertrauen beeinträchtigen. Kinder sind dann einem erhöhten Risiko ausgesetzt, ebenfalls psychisch zu erkranken oder in ihrem späteren Leben soziale Probleme zu entwickeln. Allzu oft gehen diese Kinder auch in der Gesundheitsversorgung vergessen. Nicht so beim Winterthurer Pilotprojekt wikip, dem Winterthurer Präventionsund Versorgungsprojekt für Kinder psychisch kranker Eltern. Dieses wird hier exemplarisch für innovative Projekte der Schweiz, die Prävention und Früherkennung in die Gesundheitsversorgung einbauen, vorgestellt.

wikip – ein Netzwerk zur Unterstützung und Versorgung betroffener Familien

Im Jahr 2003 hatten die Integrierte Psychiatrie Winterthur (ipw) und das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) des Departements Kinder- und Jugendmedizin am Kantonsspital Winterthur (KSW) das Problem «Kinder psychisch kranker Eltern» erkannt und eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe «AG Familienpsychiatrie » gegründet. In einer Vorstudie wurden im Jahr 2006 die vorhandenen Versorgungsangebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Raum Winterthur erfasst und die Zusammenarbeit der Institutionen und Fachpersonen näher angeschaut. Der ermittelte hohe Handlungsbedarf führte 2010 dazu, das Projekt wikip zu etablieren. Es wurde zwischen 2010 bis 2013 wissenschaftlich begleitet. Im Projekt wurden nach und nach Hilfsund Behandlungsmassnahmen für Kinder, Jugendliche, Eltern und die Versorgungssysteme erarbeitet. In der Projektorganisation wurden die wichtigen Akteure mit eingebunden: Institutionen und Fachpersonen aus der Erwachsenen-, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Kinder- Jugend- und Familienhilfe, aus dem Sozial- und Schulwesen sowie Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte usw.

«No Wrong Way»-Ansatz

Von Beginn weg sollte Betroffenen, sobald sie eine der Kontaktstellen aufsuchten, Soforthilfe für sich und ihre Familie angeboten werden können. Auch wenn die Zuständigkeit zunächst nicht gegeben war. Egal also, wo sich die Betroffenen als Erstes hinwenden, sie sind an der richtigen Stelle («no wrong way») und kriegen die nötige Unterstützung. Das wikip-Projekt legte auch grossen Wert darauf, gezielt Abklärungen zu etablieren, die beim Feststellen einer psychischen Erkrankung der Familiensituation Rechnung trägt wie z.B. mit einer ersten so simplen wie wichtigen Frage: «Haben Sie Kinder?»

Mangelnde Informationen und mangelnder Austausch bei Fachleuten

Die Bedarfs- und Situationsanalyse im Jahr 2010 hat auf der einen Seite ergeben, dass nur wenige Fachpersonen wie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und nur wenige Fachpersonen im stationären und teilstationären psychiatrischen Dienst Informationen zum körperlichen Gesundheitszustand der Kinder ihrer Klienten erfassen. Auf der anderen Seite hat eine Online-Befragung gezeigt, dass nur wenige der Fachpersonen, die mit den Kindern zu tun haben, über genügend Informationen zum Gesundheitszustand der Eltern verfügen. Das betraf etwa die Bereiche Kinderkrippe, Hort, Kinderarzt, Mütter- und Väterberatung (ohne psychosozialen Auftrag) sowie Angebote, die sich speziell mit psychosozialen Themen befassen wie Kinderpsychiater, Kinderpsychotherapeutinnen oder Beratungsstellen, Heime oder Schulpsychologische Dienste. Die Evaluation von wikip vier Jahre später ergab, dass sich die jeweiligen Versorgungssysteme der Eltern und der Kinder angenähert hatten. Es wurde von einem Wir-Gefühl gesprochen und der gemeinsamen Verantwortung für die Betroffenen. Entscheidungen und Interventionen würden besser aufeinander abgestimmt und die Kenntnis über Aufträge und Arbeitsweisen anderer Organisationen sei besser. Andere Fachstellen würden vermehrt kontaktiert, wenn in einer Familie eine Problemsituation durch einen psychisch kranken Elternteil entsteht. Und auch die Weiterleitung an die richtigen Stellen nach dem hergestellten Erstkontakt hätte verbessert werden können. Zudem habe die Einbindung in ein Netzwerk und gemeinsame Ausbildungen zum Thema die Sensibilisierung erhöht. Man kenne sich besser in der Angebotslandschaft in und um Winterthur aus und sei sicherer im Umgang mit betroffenen Eltern und Kindern. So der Grundtenor der befragten Fachpersonen.

Lernende Organisationen

Ein neues Klinikinformationssystem der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland (ipw) nimmt heute den Prozessablauf zur Erfassung der Situationen von Kindern und anderen abhängigen Personen im Rahmen der Patientenaufnahme und Anamnese auf. Das Weiterbildungs-Curriculum der Gesundheitsfachleute integriert Aspekte um das Thema «Familie mit einem psychisch erkrankten Elternteil» und es finden Veranstaltungen zum Thema statt. Zudem befinden auch die Gerichte und Behörden die Neuerungen einer prozess- und lösungsorientierten Herangehensweise von wikip als nützlich.

Ausblick

Nach der bisherigen Aufbauarbeit sieht die Projektleitung eine Hauptaufgabe in der Festigung und Vertiefung des Netzwerks. Auch sollen eine SOS-Kinderbetreuung oder Elterngesprächsgruppen eingerichtet werden. Eine Lücke in der Unterstützungslandschaft füllt das Pilotprojekt «Patenschaften», das der Verein für Familien- und Jugendhilfe auf Initiative von wikip betreut. Kinder von psychisch kranken Elternteilen können hier eine Bezugsperson erhalten, sollte das aufgrund der familiären Situation nicht möglich sein. So wird Kindern ein Rückzugsort geschaffen, der sich stabilitätsfördernd auswirkt.

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Contact

Esther Walter
Sektion Nationale Gesundheitspolitik

esther.walter@bag.admin.ch

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